Die Dynamik des Wandels ist atemberaubend

Interview Teil 2 mit Dirk Seiler, Geschäftsführer Sedotec

Die Dynamik des Wandels ist atemberaubend

Im ersten Teil unseres großen Zukunftsinterviews mit dem Querdenker Dirk Seiler von Sedotec (s. SSB 1/2020) haben wir viel erfahren über die Welt der Schaltanlagenbauer und Elektroinstallateure. Lesen Sie in Teil 2 nun, was die ukunft von den Herstellern verlangen wird, was der Markt fordert, welche Bedeutung Normen, Sicherheit und Haftung bekommen und wer in der Branche dauerhaft erfolgreich sein wird.

"Viele Schaltanlagensysteme sind am Ende ihres Produktlebenszyklus' angekommen. Demografischer Wandel, Digitalisierung, Sicherheitsthemen sowie neue Normen besiegeln deren Laufzeit endgültig", meint Dirk Seiler. (Bild: Sedotec GmbH & Co. KG)

„Viele Schaltanlagensysteme sind am Ende ihres Produktlebenszyklus‘ angekommen. Demografischer Wandel, Digitalisierung, Sicherheitsthemen sowie neue Normen besiegeln deren Laufzeit endgültig“, meint Dirk Seiler. (Bild: Sedotec GmbH & Co. KG)

Herr Seiler, wie sehen Sie die Zukunft?

Dirk Seiler: Ich bin ein positiv denkender Mensch und freue mich grundsätzlich auf die Zukunft, denn schließlich ist sie der Zeitraum, in dem ich leben will. Das liegt auch daran, dass ich stets angstfrei auf das blicke, was mit der Zukunft an Veränderungen kommt. Veränderung ist der Normalzustand, nicht die Ausnahme. Wer das nicht wahrhaben will, der wird sich mit der Zukunft schwertun.

Veränderung ist ein gutes Stichwort. Was verändert sich in Ihrer Branche der Schaltanlagen?

Seiler: Oh, sehr viel – eigentlich alles, was früher in Stein gemeißelt schien. Früher dachte ich immer, der Schaltanlagenbau ist eine Branche, in der sich nie etwas verändern wird. Das hat sich in den letzten Jahren jedoch stark gewandelt. Und der Wandel hat eine Dynamik entwickelt, die für manche Anbieter existenzbedrohend sein wird. Denken Sie nur an die Stichworte Digitalisierung, Sicherheit und Normen sowie Haftung. Hinzu kommt der steigende Fachkräftemangel, den wir vorhin schon angesprochen hatten (s. SSB 1/2020). Da ist jeder Bereich für sich schon eine große Herausforderung für Hersteller. Aber es geschieht alles in diesen Themen gleichzeitig. Man muss das folglich parallel angehen. Wer das nacheinander angehen will, hat schon verloren. Denn es gibt kein Ende, Wandel wird immer weitergehen und das mit immer höherem Innovationstempo und einem extremen Normungsdruck.

Was bedeutet das konkret für den Bereich Schaltanlagen?

Seiler: Nun, viele Schaltanlagensysteme sind am Ende ihres Produktlebenszyklus‘ angekommen. Demografischer Wandel, Digitalisierung, Sicherheitsthemen sowie neue Normen besiegeln deren Laufzeit endgültig. Dieser Prozess beschleunigt sich noch, wenn auch die Menschen, die die alten Schaltanlagensysteme entwickeln, betreiben und warten, mit ihrem Wissen in den Ruhestand gehen. Dann ist schlichtweg niemand mehr da, der sich damit auskennt. Neue Anlagen sollen natürlich den aktuellen und möglichst auch den zukünftigen Anforderungen entsprechen. Viele altgediente und ehrwürdige Hersteller von Schaltanlagen werden da aussteigen, weil sie sich den Herausforderungen nicht stellen wollen oder sich nur noch auf Schaltgeräte konzentrieren. Das ist die Chance für Unternehmen, die sich mit ganzem Herzen dem Schaltanlagenbau widmen. Unternehmen mit neuem Denken, Unternehmen die mit frischen Ideen den Kundennutzen in den Vordergrund stellen. Wir fühlen uns mit Sedotec und unserem Kit-System Vamocon bestens für die Zukunft positioniert und freuen uns darauf. (schmunzelt) ‚Schaltgeräte würden Vamocon kaufen‘.

Wie bewältigen Sie als eher ‚junger‘ Hersteller von Schaltanlagen diese Herausforderungen?

Seiler: Unsere ‚Jugend‘ hilft uns da sogar, denn wir waren ja schon immer die Querdenker ohne Erbhöfe und mussten stets durch Innovationen und clevere neue Lösungen überzeugen, was uns mit Vamocon in den letzten zwölf Jahren wunderbar gelungen ist. Betrachten wir die Digitalisierung: Sie verändert Geschäftsmodelle. Die klassische, oft hermetische Abschottung der verschiedenen Gewerke der Blech-, Elektrotechnik- und Softwarehersteller wird durchlässiger. Es findet eine Entgrenzung statt. Statt horizontal denkender Experten sind vertikal denkende Generalisten gefragt. Das heißt jetzt aber nicht, dass Blechhersteller plötzlich Software programmieren werden – nein, keinesfalls. Aber alle müssen offener miteinander umgehen, sich austauschen und zusammenarbeiten. Abschottung, sei es aus Angst vor Knowhow-Diebstahl, aber auch aus Machtdenken, wie es die Großen seit jeher und immer noch praktizieren, hilft nicht weiter. Die Zukunft gehört Herstellern, die mit durchgehenden Systemen, die Probleme der Kunden schnell und zielgerichtet lösen – und ich bin mir nicht sicher, ob das immer nur die ‚Großen‘ sein werden.

Bild 2 | Die Geschäftsführer Frank Guckau (li.) und Dirk Seiler haben die Digitalisierung in der Sedotec Unternehmensstrategie fest verankert. (Bild: Sedotec GmbH & Co. KG)

Bild 2 | Die Geschäftsführer Frank Guckau (li.) und Dirk Seiler haben die Digitalisierung in der Sedotec Unternehmensstrategie fest verankert. (Bild: Sedotec GmbH & Co. KG)

Wie muss man sich das in der täglichen Arbeit vorstellen?

Seiler: Stichwort digitaler Zwilling. Unsere Kunden, die Planer, Schaltanlagenbauer, Installateure oder Anwender erwarten, dass wir ihnen Daten liefern, die sie in ihre Systeme integrieren können. Das sind beispielsweise 3D-Daten, die sie in ihr BIM (Building Information Modeling = Bauwerksdatenmodellierung, Anm. d. Redaktion) integrieren können. Aus unserer Konfigurationssoftware können wir hierfür Daten bereitstellen. Das spart häufig Doppelarbeit und verkürzt den Planungs- und Dokumentationsaufwand. Wir nutzen die digitalen Informations- und Kommunikationstechniken aber auch intern und verbessern dadurch unsere Abläufe, indem wir das Geschäftsprozess-Management mit der Automatisierung verbinden. Dies beinhaltet neben anderem das Lean Management, Schnittstellen, die Dokumentation und auch Softwarelösungen. Hier haben wir mit meinem Geschäftsführungskollegen Frank Guckau einen tatkräftigen Initiator und Treiber des Themas, der unsere Weiterentwicklung maßgeblich voranbringt. Wir haben die Digitalisierung in unserer Unternehmensstrategie fest verankert.

Sedotec arbeitet im Arbeitsfeld Energy der DKE Technology in Gremien zur Entwicklung neuer Normen für Schaltgerätekombinationen mit. Warum?

Seiler: Na eben deshalb. Mitarbeiter von uns arbeiten als Fachleute und ehrenamtlich seit vielen Jahren im DKE (Deutsche Komission Elektrotechnik, ein Organ des Deutschen Instituts für Normung – DIN – und des Verbands für Elektrotechnik – VDE) an der Normung mit. Sie bringen ihre Erfahrungen und ihr Wissen ein, teilen es mit den anderen Mitgliedern und arbeiten so an neuen Normen mit. Ziel ist dabei stets die Erstellung sicherer und zukunftsfähiger Branchenstandards. Sehen Sie, die Anforderungen an Schaltanlagen werden immer weiter steigen. Dabei sind Sicherheitsanforderungen und Haftungsfragen treibende Faktoren, auch, weil immer weniger Fachkräfte zur Verfügung stehen. Da ist es umso wichtiger, dass Sicherheitsstandards in Normen festgelegt werden. Lassen Sie mich als Beispiel Geräte oder Stromkreise im Schaltschrank nennen, die gewechselt werden können, obwohl die Hauptsammelschiene Spannung führt. Diese Anforderung wird in der nächsten Edition der DIN EN61439-2 künftig so beschrieben sein, dass ein Entfernen der Module ausschließlich im lastfreien Zustand möglich sein darf. Unsere neuen Vamocon Steckmodule sind heute schon auf diese kommende Normenänderung ausgelegt. Ferner wird dieses Jahr erstmalig die Integration aktiver Störlichtbogenschutzsysteme in Schaltgerätekombinationen normativ geregelt und in Kraft treten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf einer sicheren Funktion sowie der Sicherheit vor Fehlauslösung. Auch diese kommende Norm haben wir bereits in unserem Kit-System Vamocon berücksichtigt, und wir haben alle wesentlichen Prüfungen erfolgreich durchgeführt.

Das hängt ja dann auch eng mit Haftungsfragen zusammen, nicht wahr?

Seiler: Ja, genau. Die Hersteller eines Schaltanlagensystems liefern zugesicherte Eigenschaften für den Betreiber. Allerdings werden Werte von Geräten außerhalb des Schaltschranks, also frei in der Luft mit drei Metern Kupferschienenanbindung ermittelt. Im Schaltschrank ist die Situation aber eine ganz andere. Da ist die Temperatur der umgebenden Luft höher und die Kühlwirkung der Kupferanbindung geringer. Also müssen die Grenzwerte der Geräte im eingebauten Zustand heruntergesetzt werden, um haftungstechnisch auf der sicheren Seite zu bleiben. Hinzu kommt, dass die Geräte keine Reserven mehr haben, denn die sind Kosteneinsparungen zum Opfer gefallen. Das heißt, in der Folge müssen noch mehr Varianten geprüft werden und können nicht mehr einfach abgeleitet werden. Hinzu kommt die zunehmende Digitalisierung in den Schaltgeräten. Die verwendeten Elektronikkomponenten schränken die Grenzübertemperatur der Schaltgeräte weiter ein, was den Prüfaufwand nochmals erhöht. Und alles muss detailliert dokumentiert und schriftlich bestätigt werden. Deshalb erweitern wir unsere Prüfmöglichkeiten in Ladenburg. Aber spätestens jetzt wird deutlich, warum die Zahl der Hersteller abnehmen wird. Es werden jene überleben, die in der Lage sind, schnell und ständig auf wechselnde Marktbedingungen zu reagieren und die richtigen Produkte zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen. Das müssen nicht zwangsläufig die großen Player sein. Aber die kaufen sich diese Unternehmen eventuell zu und erwerben damit Knowhow aber vor allem Fähigkeiten, die sie selbst nicht haben. Auch wir sind schon in einen solchen Fokus geraten.

Bild 3 | Für die Produktentwicklung hat Sedotec mit Design Thinking eine neue Methode zur kreativen Bearbeitung komplexer Problem- und Aufgabenstellungen mit einem besonderen Fokus auf den beteiligten Menschen etabliert. (Bild: Sedotec GmbH & Co. KG)

Bild 3 | Für die Produktentwicklung hat Sedotec mit Design Thinking eine neue Methode zur kreativen Bearbeitung komplexer Problem- und Aufgabenstellungen mit einem besonderen Fokus auf den beteiligten Menschen etabliert. (Bild: Sedotec GmbH & Co. KG)

Sie meinen, Sedotec sollte aufgekauft werden?

Seiler: Ich will da jetzt nicht auf Details eingehen, aber es war genau so, wie gerade beschrieben.

Und mit welchem Ergebnis?

Seiler: (lacht) Keine Angst, wir bleiben zu hundert Prozent eigenständig und unabhängig. Wir sind mit Herzblut dabei und werden weiterhin aktiv und sehr schnell auf Trends, die wir sehen, reagieren.

Welche Trends sehen Sie denn?

Seiler: Neben dem bereits Geschilderten stellen wir uns im Wesentlichen auf drei Trends ein: Mitarbeiter sind nicht mehr lebenslang im Unternehmen und nehmen das Wissen im Kopf mit, wenn sie gehen. Für die neuen Mitarbeiter ist es wichtig, dass das Wissen im Unternehmen bleibt und alle darauf zugreifen können. Das bedeutet, dass wir neben der gesetzlichen Pflicht zur Dokumentation bei uns eine Kür an zahlreichen darüber hinausgehenden Dokumentationsaufgaben eingeführt haben, um das Wissen für alle transparent zu halten. Dieses Mehr an Informationen bedeutet aber, dass die Dokumentationen einfach sein müssen, beispielsweise viele Bilder enthalten und weniger Text, vergleichbar einer Bauanleitung von Ikea. Der zweite Trend hängt mit dem zusammen, was ich vorhin über die vertikale Durchlässigkeit gesagt habe. Wir haben einen neuen Produktentstehungsprozess etabliert, der das Produkt über den gesamten Produktlebenszyklus betrachtet. Für die Produktentwicklung haben wir mit Design Thinking eine neue Methode zur kreativen Bearbeitung komplexer Problem- und Aufgabenstellungen mit einem besonderen Fokus auf den beteiligten Menschen etabliert. Von der Problembeschreibung bis zur abgeschlossenen Entwicklung werden so die Bedürfnisse der Schaltanlagenbauer, Installateure und Betreiber, für die die Lösung entwickelt wird, analysiert, bewertet und erfüllt. Die Endkunden werden durch Beobachtung, Tests und so genannte Personas gedanklich stark in die Entwicklung einbezogen. Dieser Prozess ist quasi iterativ und leicht verständlich. Design Thinking fördert darüber hinaus das Verständnis für eine positive Fehlerkultur. Das Ergebnis ist eine deutliche Verbesserung der Beziehungen zwischen uns und unseren direkten Kunden. Das erhöht das Verständnis aller für die Entwicklung. Ein Dritter Trend ist das Thema CO2-Einsparung. Produkte werden ganzheitlich über den gesamten Produktlebenszyklus und darüber hinaus bis zur Verschrottung betrachtet. Da sind ausführliche Datenblätter, CO2-Zertifikate und die Betrachtung der Nachhaltigkeit künftig unabdingbar. Das kann vordergründig die Kosten erhöhen, bei ganzheitlicher, nachhaltiger Betrachtung bis zur Verschrottung wird sich dies aber wieder relativieren.

Und wie reagieren Sie bei Sedotec darüber hinaus auf diese Trends?

Seiler: Selbstverständlich durch Innovationen – so wie es unsere Kunden von uns gewohnt sind. Hier kann ich Ihnen – exklusiv für die Leser von SCHALTSCHRANKBAU – ein Geheimnis verraten. Wir sind an einer Entwicklung im Niederspannungsbereich dran, die den Markt rocken wird, weil sie den Kundennutzen ultimativ in den Mittelpunkt stellt. Die Markteinführung ist für Herbst/Winter 2020 geplant – wenn uns das Coronavirus dabei nicht aufhält.

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